Der Andere
von Paul Trog
Der Mensch ist eine Koagulation der ewigen Substanz, ein erstarrter Tropfen der
Unendlichkeit - ein denkender, fühlender Ausfluss des denkenden, fühlenden, grenzenlosen
Alls. Aus einem Urausguss, der von der tiefen Wunde stammt, die die Ursünde ins
Zeitlose schlug, entstand ein Gerinnsel - ein 'Anderer', ein an die Zeitschwelle
gebundener umgestalteter Mensch. Und dieser riss den ihm überlassenen Teil der Schöpfung
mit sich in die Zeit. So entstand ein vergängliches, zeitge- bundenes zweites Werden.
Am äußersten Rand des Zeitsaumes haftend, ahnt der 'Andere' schwach und sehnsuchtsvoll
nur noch wenig von seiner verlorenen Bestimmung. Da vergänglich und von der Urschöpfung
ausgestoßen, muss er zuletzt in die Tiefe des Todes stürzen.
Für immer verurteilt scheint sein wankelmütiges Wesen aus dem unendlichen Geschehen
verbannt zu sein; jetzt jedoch, im Zeitbewusstsein denkend, wollend und handelnd,
in einer abgesteckten Endlichkeit lebend, entscheidend und wirkend, von der Dynamik
einer zeitgebundenen Evolution erfasst und getrieben, muss er sich behaupten - bis
die Kruste, die ihn umgibt, mit ihm tief in die Leere stürzt.
Der Mensch wollte Gott werden und ist es nicht geworden. Von der Schlange überlistet
und betrogen, wurde er in die Höhle seiner Hirnkapsel verbannt. Er lebt dort voll
Furcht, Sehnsucht, Reue und Grauen. In Sinnesfreuden sucht er oft das Vergessen.
Platon beschreibt Menschen in seiner Politeia (Buch VII), die in einer Höhle leben
(meint er wohl die Höhle der Schädelkapsel die die Vernunft umfasst?). Sie glauben,
dass die sonnenbestrahlte Welt der Sinne echt und erfüllend sei. Sie irren und leben
kläglich, sagt Platon, eingeschlossen in einer Grotte voll Ignoranz, Dummheit und
Bösem. Nur wenigen gelingt es, aus der Höhle zu klettern und zu entkommen - und
dies unter furchtbaren Anstrengungen und vielen Kämpfen, um dann endlich die Höhen
der Freiheit zu erreichen. Und sollten diese Menschen je den Weg in die Höhle zurückfinden
um andere zu ermutigen empor zu steigen, würden sie verspottet und mit Hohn und
Gelächter überschüttet werden. Helena Petrovna Blavatsky (1821 bis 1891), die bekannte
esoterische Schriftstellerin, behauptet sogar im zweiten Band der "Geheimlehre",
dass sich der Sitz des Luzifer im Hirn und in der Intelligenz der Menschen befinde.
Eine schicksalsbedrohliche Ansicht, sollte Blavatsky Recht haben!
Der Mensch kennt jedoch auch echte, tiefe Liebe, die im Urguten gründet, deren Ethik
einst in ihm verankert war. Dort quillt seine Hoffnung. Und von dieser Dynamik getragen,
überlegt und entscheidet er manchmal richtig. Eine Rückkehr in seinen Urzustand
ersehnend, entwickelt er Vernunftreligionen, Utopien und Zivilisationen. Da diese,
wie er, vom Zeitgeschehen geprägt und daher umstandgebunden sind, werden die Grundwerte
seiner Gewissensethik oft zurechtgebogen und wissentlich falsch interpretiert...
Auslegungszwiste, die dann zu Meinungserstarrungen, Streit, und Grundsatzentzweiungen
führen, sind der Zündstoff für Unruhen, Revolutionen und Kriege. An seinem Eigenwillen,
der im Urbösen gründet, zerschellt meist seine Kreativität und die Erstarrung der
Geschichtsvorgänge bedroht, in einer scheinbar unaufhaltsamen Entwicklung, jede
Göttliche Spur im Mensch zu vernichten.
Sokrates berichtet jedoch von einer Fühlungnahme aus der Ewigkeit. Schon als Kind
erlebt er das gewisse "Göttliche Etwas" (Apologie 31 CD), eine "Stimme" (Apologie
31D, Phaidros 242 C). Der Allmächtige, Allwissende Gott hat demnach die Menschen
nicht vergessen und erhebt in ihnen Seine Stimme. Er meldet Sich zutiefst im Wesen
durch ein Bewusstsein, das nicht unmittelbar vom Verstand abhängt. Er spricht durch
eine immer noch im Mensch vorhandene Urfähigkeit, die geistig Schöpferisches, aber
vor allem auch göttlich Angewiesenes intuitiv hören und verstehen kann. Gott spricht
in einer an das Erstarrungsphänomen ungebundene Sprache. Er will in Seiner unendlichen
Barmherzigkeit die Rückkehr der Menschen in die ewige Dimension ermöglichen und
dies durch eine Wesensverkoppelung mit Seinem lebendigen, ewigen Gedanken. Sein
Wort in der Sprache der Menschen wird somit Ausdruck Gottes. Ein unendliches Wort
allerdings, das im Zeitlichen in seiner Wahrheit und Fülle kaum verstanden wird,
bis eines Tages die Taube mit Ihrem Schnabel die Stirne und das Herz der Suchenden
durchschlägt, um das menschlich Unfassbare fassbar zu machen.
Alle drei monotheistischen, abrahamitischen Religionen gründen auf Stimme und Wort,
auf die offenbarte Sprache Gottes. Aber das ewige Wort, durch Menschenverstand wiedergegeben
und durch Menschenmund eigenwillig verkündet, wird notgedrungen verzerrt und droht
deshalb auch zu erstarren. Deshalb wollte der ewige Gott in Seiner Barmherzigkeit
Mensch werden und unter uns Leben, um eindeutige Klarheit zu schaffen. Zudem nahm
er die Ursünde und dessen Folgen gänzlich auf Sich und besiegte am Kreuz die Erstarrung
des Todes durch Seine Auferstehung. Er bahnte dadurch für die Menschheit ein neues
Werden, eine Renaissance an, den sicheren Weg zurück in die Ewigkeit der ersten
Schöpfung.
Den Koagulationsprozess machte Er Rückgängig. Das Blut und das Wasser, das am Kreuz
aus den göttlichen Wunden floss, wurden für die Menschheit zu kolloidalen Stoffen,
zur Lösung und Erlösung, zum durchspülenden Element für die drei Kreislaufsysteme
im menschlichen Wesen und zur Befreiung der Suchenden ungeteilten Herzens.
Paul Trog
Innsbruck
22/07/10