Die Wasserscheide
Im Kaschmir (Nordindien) ist die Genese greifbar. Die Schöpfung
überwältigt mit ungeheurerer, fast erdrückender Schönheit.
Ursprünglichkeit ist überall. Erhaben die Dimension der Berge,
mächtig die Flüsse, bezaubernd die Intensität der grünen Farben der
Wälder und Wiesen. Die kraftvolle Konsistenz der Luft stärkt und erfrischt.
Wie der Adler überflügelt dort die Intuition Sinn und Logik.
Als Mitglied eines Teams der Moralischen Aufrüstung besuchte ich diese
herrliche, jedoch stark umkämpfte Gegend im Jahr 1951. Wie heute
gehört jenes Land vorwiegend zu Indien. Der kleinere westliche Teil
ist im Besitz von Pakistan. Gefährlich und bedrohlich war damals (und
ist es heute noch) der ständige Streit um dieses strategisch äusserst
wichtige Gebiet.
Obwohl wir alle damals Kaschmir gründlich erkunden wollten, wagten
nur wenige den Aufstieg in das Quellengebiet der mächtigen Flüsse, die
den indischen Subkontinent bewässern. Hoch im Gebirge, in Quellennähe,
so berichteten unsere waghalsigen Freunde, befindet sich ein grosses,
trockenes Flussbett, das überquert werden musste, um dann etwas weiter
den Fluss, an der Wasserscheide umgebettet und in eine ganz andere Richtung
fliessend, vorzufinden. Bewässerungspolitische Gründe hatten die indische
Regierung dazu bewogen, die Natur so offensichtlich und in diesem Ausmass
zu vergewaltigen, denn das Gewässer floss ursprünglich nach dem heutigen
Pakistan.
Ich erinnerte mich damals an griechische Philosophen, die im Wasser
denn Ursprung der Schöpfung sahen. Einen wichtigen Fluss im Kaschmir
umzubetten und von seiner ursprünglichen, natürlichen Zielbestimmung
wegzuleiten - das sah ich nicht nur als eine Vergewaltigung der Natur,
sondern gewissermassen auch als eine Wiederspiegelung der Ursünde.
Denn der Lebensstrom der Menschheit wurde im Urgeschehen auch an einer
Wasserscheide vergewaltigt und dadurch wurde das menschliche Schicksal
im ewigen Geschehen, durch eigene Schuld, umfunktioniert. Die Menschheit
trennte sich damals von Gottes Vorsehung und entzweite sich von Ihm und
Seinem Willen. Fort vom Unendlichen floss dann die Bestimmung der
Menschgheit in das Vergängliche, in die Zeit – in eine Welt, in der der
eigenwillige Mensdch dazu verurteilt war, immer wieder, wie jetzt in Indien
und Pakistan, ähnliche Zwiste und Katastrophen zu wiederholen.
Im Kaschmir liegt eine Quelle und ein Gericht. Zudem aber auch eine Frage
von ewiger Bedeutung: Kann der Mensch über die Wassersdheide der Zeit
zu Gottes Urquelle in der Unendlichkeit wieder zurückfinden?
Eine wesentliche Frage, die mich seitdem beschäftigt.
Paul J. Trog,
Innsbruck,
2007